Am Abend vor der Operation

Ich schlage die Bibel auf und suche die Stelle, die mir sehr wichtig ist: „Seid gewiss, ich bin bei euch alle Tage …“ (Matt. 28,20)

Was für eine Zusage! Du bist bei mir – nicht als Geist, sondern so, wie Du damals nach der Auferstehung Deinen Jüngern gegenübergetreten bist: Real, konkret, mit Fleisch und Blut (vgl. Thomas, Joh. 20.24). Mit meinen Sinnen kann ich Dich zwar nicht erfassen (vgl. Apg. 1,9: „Eine Wolke … entzog ihn ihren Blicken.“), aber Du hast mich erkennen lassen, daß Du auch heute / auch jetzt wirklich körperlich da bist. Als eigenständige menschliche Person, als Mann oder Frau. Du hast die Gestalt angenommen, die ich liebe. Du stehst vor mir und läßt mein inneres Auge die Schönheit Deines Gesichtes sehen. Du siehst mich an mit einem warmen, zärtlichen Blick. Ich küsse Dich und Du erwiderst meinen Kuss. Das glaube ich, auch wenn ich Dich nicht sehe, nicht fühle. Ich habe erkannt, daß das so ist.

Mein Blick fällt auf das Kreuz an der Wand des Krankenzimmers. Ein kupferner Korpus montiert auf einem hölzernen Balkenkreuz. Welch ein Kontrast zu dem, was ich erlebe! Wie ist doch der lebendige Glaube, der aus den Evangelien spricht, geschrumpft zu einer kraftlosen Routine.

Die Tür geht auf, die Krankenschwester bringt einen Ständer und einen Kanister mit Spülflüssigkeit und fängt an, den Ständer am Bett zu montieren. „Für die OP“, sagt sie. Wie wird es morgen um diese Zeit um mich stehen? Ich lese nochmals Matt. 28,20: „Ich bin bei euch alle Tage …“

Anmerkung: Prostata-Operation Dez. 2009
Niedergeschrieben nach Notizen am Vorabend der OP

Vers. 2022/02/25